Online zur inneren Ruhe kommen

Vergesslichkeit, Wortfindungsprobleme, Konzentrationsstörungen: Viele Patient:innen mit einer Krebserkrankung leiden unter belastenden kognitiven Beeinträchtigungen. Ob und inwieweit diese durch ein besonderes Therapieverfahren, die „Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“, gelindert werden können, ist Gegenstand einer neuen Studie des Universitären Cancer Center Hamburg (UCCH) im UKE. Das Besondere daran: Die Teilnehmenden treffen sich mit ihrer Kursanleiterin jeweils acht Wochen lang im Online-Kurs – und üben anschließend in heimischer Umgebung weiter.

Astrid Fallinski hat am ersten Online-Kurs teilgenommen. Die 59-Jährige war 2015 an Eierstockkrebs erkrankt, hatte Operationen und Chemotherapie gut überstanden. „Mein Leben ging dann relativ normal weiter.“ 2020 folgt der zweite „Schlag ins Kontor“, wie sie es nennt: ein Rezidiv im linken Becken. Die folgende Chemotherapie löste einen Allergieschock aus. Die Tabletten, die sie seitdem nimmt, sorgen für Müdigkeit, Erschöpfung, Vergesslichkeit und starke Übelkeit. Ihre Arbeit musste sie aufgeben.

Morgendliche Meditationsübung
Morgendliche Meditationsübung im Wohnzimmer
Die Übungen bringen Astrid Fallinski viel Kraft
Die Übung lässt Astrid Fallinski innehalten...
...und gibt ihr viel Kraft für den Tag

Meditation als morgendliches Ritual

Jeden Morgen nach Frühstück und Tabletteneinnahme praktiziert Astrid Fallinski 45 Minuten lang den „Body Scan“, eine Meditationsübung aus dem Kurs, die ihr besonders guttut: Sie sitzt im Sessel und wandert in Gedanken durch ihren Körper. „Meine Übelkeit ist dadurch zurückgegangen. Ich bin auch insgesamt entspannter und kann mich besser auf das Hier und Jetzt konzentrieren.“

Die „Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“ (Mindfulness Based Stress Reduction, kurz MBSR) wurde Ende der 1970er-Jahre vom Wissenschaftler Jon Kabat-Zinn an der University of Massachusetts Medical School entwickelt. Mit gezielten Meditationsübungen werden die Aufmerksamkeit gelenkt und die Achtsamkeit für den Körper erhöht. Im Rahmen der Studie am UCCH starteten Anfang des Jahres die ersten von insgesamt zwölf Online-Kursen mit dem standardisierten Therapieverfahren.

Prof. Dr. Matthias Rostock leitet die Achtsamkeitsstudie
Prof. Dr. Matthias Rostock leitet die Achtsamkeitsstudie

Positive Effekte nachgewiesen

Geleitet wird das Forschungsprojekt von Prof. Dr. Matthias Rostock, der am UKE die Stiftungsprofessur für Komplementärmedizin in der Onkologie innehat, und Prof. Dr. Steffen Moritz, Neuropsychologe in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Die Hamburger Krebsgesellschaft fördert die Studie. „Komplementäre, also die Schulmedizin ergänzende Therapieverfahren sind in der Krebsbehandlung schon recht gut etabliert“, sagt Prof. Rostock, auch wenn sie an Universitätskliniken immer noch eher selten seien.

Zu MBSR gebe es zahlreiche wissenschaftliche Belege für die positiven Effekte bei krebsassoziierten Beeinträchtigungen. Die Wirksamkeit hinsichtlich kognitiver Belastungen wird in der Studie anhand von Fragebögen und neuropsychologischen Tests ermittelt; eine Doktorandin, die selbst am Kurs teilgenommen hat, begleitet die Studie wissenschaftlich.

Aus der „Grübel-Spirale“ herauskommen

Der Kurs hat es in sich: Jeweils zweieinhalb Stunden dauert die wöchentliche Online-Sitzung mit bis zu 16 Teilnehmenden, die sich aus ganz Deutschland zuschalten. Mit verschiedenen Meditationstechniken trainieren sie unter anderem den „Achtsamkeitsmuskel“, wie Kursleiterin Renate Kommert erklärt. „Der Geist macht oft Sprünge, die Gedanken fliegen hin und her. Wir üben, immer wieder zum gegenwärtigen Moment zurückzukehren und ihn achtsam wahrzunehmen“, sagt die Hamburger Therapeutin und zertifizierte Ausbilderin für MBSR. Die Teilnehmer:innen lernen, aus der „Grübel-Spirale“ herauszukommen und sich bei quälenden Gedanken auf ihre Körperempfindung zu konzentrieren: Wo genau spüre ich die Angst? Und was passiert, wenn ich innehalte und diesem Gefühl mit freundlicher Hinwendung begegne? „Meist tritt dann eine innere Ruhe ein. Und die Teilnehmenden stellen fest, dass sie die Freiheit haben, ihre Reaktion auf unangenehme Gedanken zu wählen.“

Zwischen den Online-Treffen wird täglich 45 bis 60 Minuten nach Anleitung per Audiodatei meditiert. Nach acht Wochen wählen die Teilnehmenden die für ihren Alltag passende Übung aus. „Die Chance, die Meditation nach dem Kurs in das normale Umfeld zu integrieren, ist bei diesem Verfahren viel größer als nach einer Reha“, betont Therapeutin Renate Kommert.

Astrid Fallinski hat „sehr viel mitgenommen“, wie sie sagt. Sie habe gelernt, aus der Gedankenschleife herauszufinden, wenn die Angst vor dem Krebs sie überkommt. „Ich konzentriere mich auf den Moment und nicht auf das, was passieren könnte.“ Wenn sie spazieren geht, nimmt sie die Natur bewusst wahr. „Das ist eine tolle Erfahrung. Früher war ich mit den Gedanken immer ganz woanders.“ Durch den Achtsamkeitskurs sei viel in Bewegung geraten: „So intensiv hatte ich mich vorher nie mit mir und meinem Körper auseinandergesetzt. Er sollte einfach funktionieren. Jetzt höre ich sehr genau auf ihn.“

Text: Ingrid Kupczik; Fotos: Ronald Frommann

Weitere Infos und Anmeldung zur Studie unter: uke.de/achtsamkeit
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